Ein bisschen gaga oder schon total verrückt: Was ist eigentlich normal?
Stellen Sie sich vor, Sie besuchen Ihren Freund, den Eskimo, zu Hause. Trotz dickem Norwegerpullover, Handschuhen, Fellkappe und Grog stehen Sie Zähne klappernd auf der Eisscholle. Ihr Freund, der Eskimo, wundert sich nur. Seiner Meinung nach ist es nämlich richtig warm heute. Sie werfen einen Blick aufs Thermometer - es hat definitiv 30 Grad minus. Ein wichtiger Referenz-Wert. Ohne den wüssten Sie nämlich nicht so genau, ob Sie jetzt spinnen oder ihr Freund, der Eskimo.
Sie laden Ihren Freund, den Eskimo, nach Deutschland ein. Der läuft mitten im Winter mit T-Shirt und kurzen Hosen durch die Stadt. Die Leute gucken schon komisch. Ihnen ist das total peinlich. Die denken doch jetzt bestimmt: Der hat sie nicht mehr alle! Normal ist sein Verhalten jedenfalls nicht. Oder?
Sind Eskimos normal?
Normal ist das, was in der Norm liegt. Oder nur wenig davon abweicht. Aber wie viel? Wer legt fest, was normal ist und was nicht? Das definiert der ICD 11 (International Classification of Diseases), ein von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) herausgegebenes Handbuch aller anerkannter Krankheiten und Diagnosen. Es besitzt seit vielen Jahrzehnten Gültigkeit und wird ständig neu überarbeitet. Denn Normalität ist ein ziemlich weites Feld.
Ein bisschen neurotisch?
Das ist normal. Wo die Normalität aufhört, das kann man am besten an dem fest machen, was nach allgemeiner Übereinstimmung als nicht mehr normal gilt, nämlich der Wahn.
Das ist der Wahnsinn!
Wir gehen leichtfertig mit Sprache um und verwenden Begriffe wie „irre" oder „Wahnsinn" ziemlich inflationär. Sie sind in unserem Sprachgebrauch zu sinnentleerten Worthülsen verkommen, verharmlosend und sogar die Bedeutung ins Gegenteil verkehrend. Zum Beispiel dann, wenn „Wahnsinn" im positiven Sinne so viel wie „super", „toll", „außergewöhnlich" oder „einzigartig" meint. Diese Verharmlosung macht durchaus Sinn: Sie hilft uns, den ernsten Hintergrund der Krankheit zu verdrängen und auch die Tatsache, dass die Heilungschancen bis heute gering sind.
Wahn hat Methode
Auch der Wahnkranke lebt in einer Realität. Allerdings in seiner ganz eigenen. Selbst wenn diese mit der Wirklichkeit der anderen wenig zu tun hat, hält er unerschütterlich daran fest. Er argumentiert dabei in der Logik seines Systems. Die erscheint nur uns verquer – ihm nicht. Er ist nicht zu überzeugen von der objektiven Wirklichkeit der Dinge, denn er glaubt felsenfest an die Existenz der Welt in seinem Kopf. Er weiß, dass es sie gibt. Deswegen muss er sich selbst - und manchmal eben auch sein Umfeld - vor Bedrohungen schützen, die sich in seiner Welt auftun.
Wahn ist Wissen
Er weiß, er steht vor dem finanziellen Ruin, löst alle Sparverträge auf, verkauft das Haus, um für sich und die Seinen vorzusorgen. Das Beispiel zeigt, wie schwer der Wahn manchmal für Außenstehende zu erkennen ist. Die Sorgen des Kranken können unter bestimmten Umständen durchaus begründet sein.
Er weiß, er ist unheilbar krank, er wird sterben. Auch da ist mitunter für Nahestehende schwer nachvollziehbar, ob dem wirklich so ist.
Wenn er allerdings mit Überzeugung darauf beharrt, Gott zu sein, von der CIA verfolgt zu werden oder mit Aliens in Verbindung zu stehen, liegt der Fall ziemlich klar.
Die Realität der Eskimos
Kommen wir noch einmal zurück auf Ihren Freund, den Eskimo. Realität hat nämlich immer ein Bezugssystem. Der Bezug zur Realität ist der Maßstab für psychische Gesundheit. Der Maßstab für den Grad der Normalität. Normalität wird am sogenannten „Gruppenstandard“ gemessen:
Normal ist, was den jeweils gültigen Verhaltensregeln, Einstellungen und Erwartungen entspricht. Dieser Standard kann je nach Bezugsgruppe sehr unterschiedlich sein - so wie sich eben auch die objektiv nachprüfbaren Lebensbedingungen der Eskimos von den unseren gravierend unterscheiden. Ihre Überzeugungen, zum Beispiel in Bezug auf die Temperaturen, sind damit vereinbar, denn die Eskimos haben da mit Sicherheit eine andere Wahrnehmung als wir. Die Überzeugungen, an denen der Wahnkranke unbeirrbar festhält, sind dagegen mit der objektiv nachprüfbaren Realität beim besten Willen nicht mehr vereinbar.