Menschen mit Handicap - Vorgeführt als Jahrmarktsattraktion
Noch im vorigen Jahrhundert stachelte der Zeitgeist der Romantik die Vorliebe für allerlei Merkwürdigkeiten, für Extotisches und Schauerliches derart an, dass die Zurschaustellung von Menschen mit seltenen Fehlbildungen großen Anklang fand. Das Publikum kam in Massen. Man bestaunte und begaffte Meerjungfrauen, Löwen- und Schlangenmenschen, Riesen, Zwerge, Spitz-,Turm- und Wasserköpfe, extrem fettleibige sowie vollkommen behaarte Menschen.
Neugier und Geldgier
Jahrmarkt, Messe, Kirchweihfest - willkommene Unterbrechungen des Alltags, Gelegenheit zur Befriedigung der Neugier, der Sucht nach Aufregendem, Besonderem, Unerhörtem, noch nie Gesehenem, Sensationen, Zeitvertreib. Tiere und Menschen standen als Monstrositäten und Schauobjekte auf gleicher Stufe nebeneinander. Ausdruck der „Gleichbehandlung“ durch eine Gesellschaft, die die Lebensform von Menschen mit Behinderung kaum über die der wilden Tiere stellte. Neugier und Geldgier waren weit ausgeprägter als das Empfinden dafür, dass man es mit menschlichen Wesen zu tun hatte. Aufgrund unzureichender Kenntnis über Ursachen, Bedeutung und Folgen von gesundheitlichen Störungen wurde Menschen mit Behinderungen weithin ihre Personalität abgesprochen. Das vermehrte ihr Leid um schlimme Kränkungen.
Noch immer werden Menschen vorgeführt
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden außergewöhnliche Menschen vorgeführt: Zu den bekanntesten Attraktionen zählten die „Siamesischen Zwillinge aus Böhmen“, Rosalie und Josepha. Sie tourten noch zu Beginn des 20. Jh. durch Europa, Asien und Afrika. 1909 gebar Rosalie einen Sohn und die Boulevard-Presse stürzte sich begeistert auf die Sensation. Der Vater, so spekulierten die Gazetten, soll der berühmte Journalist Egon Erwin Kisch gewesen sein. Und heute?
Ein Blick auf das tägliche Fernsehprogramm oder die neuen Nachrichten von Freunden auf sozialen Medien genügt, um festzustellen: Das menschliche Bedürfnis nach Unterhaltung und Sensationen ist ungebrochen. Heerscharen von Menschen konkurrieren um das Schicksal mit dem größten Freak-Faktor. Sie stilisieren sich so ungeniert in ihrem echten oder vermeintlichen Lebensdrama, dass man auf die Idee kommen könnte, dass die Abweichung von der Norm das „Normale“ sei oder zumindest in jeder Normalbiografie irgendwann einmal vorkommt.
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