War der Winter früher wirklich besser?
Wenn das Quecksilber im Winter Plusgrade zeigt und der Schnee mehr als zwei Wochen ausbleibt, werden schnell die Unkenrufe laut: Es ist doch zu warm! Früher gab es so etwas nicht. Damals waren Winter noch richtige Winter. Aber stimmt das auch? Statistisch lässt sich diese Wahrnehmung nicht belegen. Unsere Erinnerungen an die Winter von früher sind trügerisch: Wir erinnern uns an eisige Dauerfrost-Perioden und gewaltige Schneeberge. Nicht an das Schmuddelwetter.
2010 – ein Ausnahmewinter?
Kurz vor Weihnachten herrschte Schneechaos in Deutschland. Der Rückflug von den Kanarischen Inseln verzögerte sich um sechs Stunden. Die Flugzeuge in Deutschland waren komplett vereist. Die Startbahnen ächzten unter den Schneelasten. Nach der Ankunft verspäteten sich die Taxis am Flughafen Nürnberg um mehr als eine Stunde. Der Räumdienst konnte die Schneemassen kaum noch bewältigen. Im Laufe des Winters gingen der Stadt die Salzvorräte aus.
Richtige Winter – Schnee von gestern?
Von 1980 bis 1990 hatten wir beinahe ebenso viele Winter mit negativen Durchschnittstemperaturen wie mit positiven (6:5). 2000 bis 2010 waren es fast genauso viele (4:7). Anfang 2011 titelten die Medien: „Werden die Winter in Deutschland immer strenger und härter?“ Der Winter 2010/2011 war tatsächlich einer der kältesten seit der exakten Wetteraufzeichnung. Der Februar 2011 war im Mittel um 8,2° C zu kalt, der gesamte Winter aber recht durchschnittlich und eher mild. Auch die Winter von 2000 bis ungefähr 2012/2013 waren eher durchschnittlich. Erst danach wurde es etwas milder wie übrigens schon einmal - in den 90ern.
Noch muss sich dieser Winter nicht verstecken
Die Winterstatistik der 1950er Jahre kann die Theorie von den angeblich so strengen Wintern nicht stützen. Nur vier Winter weise negative Durchschnittstemperaturen auf, zum Beispiel der von 1955/1956 mit -2,3 Grad. Auch da war (wie so oft) nur ein einziger Monat für die niedrigen Durchschnittswerte verantwortlich: der extrem kalte Februar 1956. Ebenso 1984/1985 (Durchschnittstemperaturen im Januar: -5,9° C) und 1986/1987 (Januar: -5,5° C). In beiden Wintern wirkte sich ein besonders kalter Januar drastisch auf die Gesamtstatistik aus. Der Winter 1985/1986 kam trotz eines überaus eisigen Monats Februar (-6,4 Grad) insgesamt durchschnittlich nur auf -0,7° C. Das lässt Schlüsse auf die Temperaturen der übrigen Wintermonate zu. Der Umkehrschluss ist trügerisch. Selbst wenn der Dezember 2020 bisher relativ mild war, ist es zu früh, auf einen „schlechten“ Winter zu schließen. Vielleicht steht uns ja die klirrende Kälte noch bevor.
Die Winter unserer Kindheit
Sind also nicht die Winter schlechter geworden sind, sondern unser Gedächtnis? Ich erinnere mich doch noch ganz genau an die Winter meiner Kindheit in der nördlichen Oberpfalz: Die Fenster waren mit bizarren Eisblumen verziert. Der Schnee überragte die Garage, wir konnten im Garten Iglus bauen. Morgens verließen wir dick eingemummelt das Haus und mussten uns vor herabfallenden Eiszapfen in Acht nehmen. Gewaltige Schneelawinen polterten vom Dach und begruben auf der Straße parkende Autos unter sich. Wegen der hohen Schneewehen war auf den Straßen oft kein Durchkommen mehr...
Unser trügerisches Gefühl für Schnee...
Persönliche Erinnerungen sind sehr subjektiv, von Emotionen geprägt. Was uns in der Kindheit besonders bewegt und beeindruckt bekommt im Gehirn eine Größenordnung, die mit den harten Fakten nicht mehr viel zu tun hat. Extreme Erlebnisse werden verallgemeinert. Wie beim Angler-Latein: Der Fisch wird bei jeder Erzählung imposanter, die Herausforderung größer. Wir speichern nicht das Schmuddelwetter an 75 Wintertagen, sondern die 10 frostigen Eistage des Jahres und die gewaltigen Schneemassen. Wir erinnern uns an Schneeburgen, Schneeballschlachten und Schneemänner, ans Skifahren, Rodeln und die ersten vorsichtigen Schritte auf dem knirschenden Eis.